23. November 2021

Machtmissbrauch und Gewalt. Hinweise für Lehrstück-Spielleiter

 

Reiner Steinweg

Lehrstückpraxis heute: Auseinandersetzung mit Machtmissbrauch und Gewalt. Mit Hinweisen für Spielleiter

                                erschienen in: Ute Pinkert/Ina Driemel/Johannes Kup/Eliana Schüler (Hg.):                                             Positionen und perspektiven der Theaterpädagogik, Uckertland OT Milow:                                             Schibriverlag. info@schibri.de

In allen Lehrstücken und Lehrstückfragmenten von Brecht stehen Gewalt, Zwang oder Machtmissbrauch im Mittelpunkt. Die Texte erzwingen daher, wenn man sie in kleinen Gruppen ohne Zuschauer spielt, eine Auseinandersetzung mit dieser Problematik auf der Reflexionsebene, vor allem aber auf der Ebene der Haltungen. Denn indem immer wieder ohne jede Abweichung der gleiche Text gesprochen und nach jedem mehr oder weniger improvisierten Spieldurchgang eine Reflexionsrunde eingefügt wird, wandert die Aufmerksamkeit der Teilnehmer*innen mehr und mehr von den gesprochenen Worten zu den dabei eingenommenen Haltungen. Die Überschrift von Brechts Keunergeschichte „Weise am Weisen ist die Haltung" ist in der von mir entwickelten Spielmethode in den letzten 40 Jahren zur eigentlichen Devise des Lehrstückspiels geworden.

2018 habe ich darüber mit Hilfe meines Bruders Gernot Steinweg einen Dokumentarfilm produziert, der in Ausschnitten auch bei der Berliner Tagung „Positionen und Perspektiven der Theaterpädagogik“ 2019 gezeigt wurde:

Am reißenden Fluss. Lehrstückspiel nach Bertolt Brecht, Methode Steinweg (Film | 71 Min. | © 2018), gedreht von Gernot Steinweg und Rea Karen, produziert von Reiner Steinweg am Institut Angewandtes Theater, Wien; veröffentlicht auf DVD als Band XVI der Lingener Beiträge zur Theaterpädagogik, Milow/Berlin: Schibri-Verlag 2018; sowie bei www.filmsortiment.de/.

Der Film ist auch mit englischen Untertiteln erhältlich über: gernot.steinweg@web.de und www.reinersteinweg.info.

Eine 12-stündige Dokumentation des gesamten Lehrstück-Seminars, die dem Film auf der DVD zugrunde liegt, ist u.a. in folgenden Institutionen zugänglich: Deutsches Archiv für Theaterpädagogik, Lingen; Bertolt-Brecht-Archiv der Akademie der Künste zu Berlin; Institut für Theaterwissenschaft der Universität Amsterdam; Institut Angewandtes Theater/IFANT, Wien.

Wie junge Menschen heute Machtmissbrauch durch Politiker wahrnehmen, wird in diesem Film im zweiten Teil (Phase 2: „Übertragen“) sichtbar. In diesem Abschnitt wird Brechts Szene „Am reißenden Fluss“ aus „Die Ausnahme und die Regel“ (Fassung mit Chören) auf eine Demonstration vor dem Tagungsgebäude einer internationalen Konferenz zum Klimawandel übertragen bzw. wurden Erfahrungen bei dieser Demonstration dem Spiel des Brechttextes unterlegt. Während die Demonstranten den Gummiknüppeln der Polizei ausgesetzt sind, isst der (linke!) „Politiker“, auch bei der anschließenden „Befragung“, in der die Spieler aus ihren Rollen heraus den Beobachtern antworten, genüsslich schmatzend einen Apfel und spricht mit vollem Mund … Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, sozialpolitischer Rhetorik und tatsächlichem Verhalten wird so markant auf den Punkt gebracht.

In anderen Seminaren wurde z.B. die sexuelle Übergriffigkeit männlicher Lehrer gegenüber Schülerinnen thematisiert, oder der oft für selbstverständlich gehaltene Eingriff gar nicht zuständiger  Männer in von Frauen übernommene Tätigkeiten und Verantwortlichkeiten, oder die Neigung zu wilder Gewalttätigkeit, wenn jahrzehntelang unterdrückte Personen oder Personengruppen sich aus ihrer Abhängigkeit befreien. Gelegentlich wird die strukturelle Gewalt des globalen Nordens gegenüber den Ärmsten des Südens Gegenstand der spielerischen Untersuchung.  Auch diffizile Vorgänge im Alltagsleben bzw. am Arbeitsplatz werden szenisch thematisiert.

Die Hauptfrage ist bei alledem: Mit welchen Haltungen kann man Macht- und Gewaltausübende in Richtung eines Verhaltens bewegen, das die Menschenwürde nicht verletzt? Was dabei für das reale Leben und auf Dauer gelernt wird, wird am Ende dieses Beitrags berichtet.

Im Folgenden wird der 70-Minuten-Film um einige praktische Hinweise für Spielleiter ergänzt. Abweichend von meiner gewöhnlichen Schreibweise verzichte ich dabei auf Sprach-Genderung, um die Lesbarkeit zu erleichtern. Wenn im Folgenden also vom Spielleiter und den Spielern die Rede ist, sind Spielerinnen und die Spielleiterin immer mitzudenken. Das Geschlecht spielt im Lehrstückspiel keine Rolle. Denn die Haltungen, um die es geht, finden sich sowohl bei Männern wie bei Frauen (wenn sie einmal eine Machtposition erringen konnten), wenn auch manchmal in unterschiedlichen Ausprägungen.

Auch beim Anleiten von Lehrstückkursen ist die Haltung des Spielleiters bzw. der Spielleiterin gegenüber den Teilnehmer*innen, und zwar gegenüber jedem und jeder einzelnen, ein wichtiger Faktor.

 

Funktion des Spielleiters

Der Spieleiter ist in Lehrstückkursen dieses Typs kein Regisseur. Er oder sie gibt keinerlei Regieanweisungen, macht keinerlei Vorschläge dazu, wie eine Figur darzustellen ist und gibt keine Kommentare dazu ab, weder verbal noch nonverbal. Er ist „Erster unter Gleichen" und spielt selbst mit bzw. beteiligt sich mit eigenen Beobachtungen und Assoziationen an den Reflexionsrunden. Dabei muss er authentisch bleiben, also seinen eigenen, spontanen Eingebungen und Impulsen folgen und nicht etwas „vorspielen".

Er hat vor allem folgende Aufgaben:

1.   Einführung und Begründung der Spielregeln und auf ihre Einhaltung achten.

2.   Erläuterung der einzelnen Spielphasen jeweils vor deren Beginn. Insbesondere zu Beginn der Phase 3 „Verändern“ muss der Spielleiter nach seiner Einführung in die hier gebotene Vorgehensweise im Sinne eines wissenschaftlichen Experiments unbedingt  nachfragen,, ob der Charakter dieser eigentlichen Haupt-Phase wirklich verstanden wurde.

3.   Leitung der Reflexionsrunden, wobei der Spielleiter eine gewisse Anreger-Funktion hat, indem er z.B. seine Assoziationen auch zu politischen Vorgängen, Zuständen oder Problemen ausspricht – aber nur, wenn diese sich ihm spontan aufdrängen, ohne krampfhaft danach zu suchen. Er spricht erkennbar von eigenen, subjektiven Empfindungen, Wahrnehmungen, Assoziationen, Erlebnissen und lässt Raum für andere. Es geht darum, den Assoziationsraum zu öffnen, nicht darum, ihn zu besetzen. Der Spielleiter stellt Fragen, aber doziert nicht. Manchmal entwickeln sich daraus politische Diskussionen, die vom Spielleiter zeitlich zu begrenzen sind.

 

Spielregeln

Ehe es losgeht, oder spätestens nach der im nächsten Abschnitt  beschriebenen Namensrunde und Eingangsübung erläutert der Spielleiter die Regeln, nach denen in Lehrstückkursen dieses Typs vorgegangen wird. Dabei geht es im Wesentlichen darum, was in diesen Kursen nicht gemacht bzw. zugelassen wird.

1.      Es gibt keinerlei Bewertung: Während des gesamten Seminars gibt es keinen Applaus! Allenfalls in der Abschlussrunde des Seminars darf man sich gegenseitig beklatschen. Weder die Darstellung insgesamt noch die individuellen „Spielleistungen" werden bewertet – weder positiv noch negativ, weder direkt noch indirekt. Beifall ist strikt untersagt, denn würde eine Spielversion mehr Beifall als eine andere bekommen, würden die Spieler mit weniger Beifall sich indirekt schlechter bewertet fühlen. Die Einhaltung dieser Regel ist die Voraussetzung dafür, dass die Beteiligten sich während des Kurses frei entfalten, sich wirklich auf das ihnen jeweils Wesentliche konzentrieren, ihren Eingebungen folgen und den damit sich ergebenden inneren Bedeutungen nachspüren können.

Es gibt kein gutes und kein schlechtes Spiel! Ich pflege zu sagen: Wir nehmen jede entstandene Spielversion so, als ob ein Regisseur mindestens vier Wochen lang mit der Gruppe daran gearbeitet hätte: Jedes Spiel bietet genau das, was jetzt, in diesem Moment, das Richtige für uns ist und gebraucht wird. Selbst wenn jemand während des Sprechens absolut und für längere Zeit still stünde und keinerlei körperliche Regung zeigen würde, gäbe eine solche Darstellung genug Anlass für Gefühle und Erinnerungen an ähnliche Situationen oder Alltagsszenen. Mit Brechts Worten: „Ästhetische Maßstäbe für die Gestaltung von Personen, die für die Schaustücke gelten, sind beim Lehrstück außer Funktion gesetzt." (Steinweg 1976, 164).

2.      In den Reflexionsrunden wird nicht über die „richtige" Auslegung/Deutung des Textes debattiert, selbst dann nicht, wenn eine gespielte Szene die nahe liegende Bedeutung des Textes auf den Kopf gestellt hat. (Im Dokumentarfilm wird z.B. in einer Szene die Zuordnung des linken und des rechten Chors zu eher linken und rechten politischen Positionen vertauscht: Auch das muss erlaubt sein! Und im weiteren Verlauf des Films zeigt sich dann auch der politische Sinn dieser Vertauschung, nämlich, dass bestimmte Haltungen, wie oben angedeutet, die früher eher rechten Politikern zugeschrieben wurden, von der jüngeren Generation gegenwärtig auch bei linken Politikern wahrgenommen und verabscheut werden.

3.      Die einzelnen Spielrunden oder gar die Darsteller werden nicht psychologisch ausgedeutet. In den Reflexionsrunden bezieht man sich nie auf die darstellende Person, sondern explizit immer nur auf die dargestellte Figur. Wenn ein Spieler da Überschneidungen mit sich selbst wahrnimmt, kann er darüber sprechen. Aber es wird nicht psychologisierend nachgesetzt, und sollte das jemand ansatzweise tun, wird es von der Spielleitung unterbunden.

4.      Da es, wenn auch nur sehr, sehr selten, vorkommen kann, dass ein Spieler aufgrund einer den Übrigen unbekannten Erkrankung bzw. eines körperlichen, nicht sichtbaren Leidens (z.B. Herzschwäche) durch einen improvisierten Spielverlauf in Not gerät, sollte eine „Stopp"-Regel eingeführt werden: Sowie jemand sich beim Spielen gesundheitlich gefährdet fühlt, kann er das Spiel durch den Ausruf „Stopp" sofort abbrechen; zumindest wird der betroffene Spieler dann durch einen anderen ausgetauscht.

Es ist sehr wichtig, dass diese Spielgrenzen klar und deutlich ausgesprochen werden und dass der Spielleiter konsequent auf ihrer Beachtung besteht.

 

Namenslernrunde und Experiment zur „Lesbarkeit" von Haltungen

Die von mir entwickelte Eingangsübung verbindet das – für den Spielleiter unabdingbare! – Lernen der Namen mit einer experimentellen Übung zur Wiederholbarkeit und Deutung von Körpersprache sowie der darunter liegenden Haltungen in alltäglichen Konfliktsituationen:

Alle Teilnehmer stehen im Kreis. Der Spielleiter nennt seinen Vornamen und macht anschließend eine ihm spontan einfallende Körperbewegung oder Geste oder nimmt eine Körperhaltung ein, die sich irgendwann in seinem Leben in einem Konflikt eingestellt hat und das damit verbundene Gefühl widerspiegelt.

Danach ist der rechts von ihm stehende Teilnehmer an der Reihe. Er nennt zunächst seinen eigenen Vornamen, wiederholt dann den Vornamen des Spielleiters und kopiert dessen Geste, Bewegung oder Körperhaltung. Dann nennt er noch einmal seinen eigenen Namen und zeigt ebenfalls eine Bewegung, Geste oder Haltung aus einem selbst erlebten Konflikt.

Nun kommt die dritte Person an die Reihe. Sie nennt zunächst ihren eigenen Namen, dann wiederholt sie Vornamen und Geste/Haltung des Spielleiters, danach wiederholt sie den Vornamen der zweiten Person und kopiert deren Geste oder Haltung; danach nennt sie erneut ihren eigenen Namen und fügt eine eigene Geste/Haltung hinzu.

Und so geht es reihum, jeder muss alle zuvor genannten Namen und Gesten bzw. Bewegungen wiederholen, bevor er seinen eigenen Namen noch einmal nennt und mit einer eigenen Geste verbindet.

Das Verfahren heißt „Huckepack": Bei jeder neu hinzukommenden Person wird der „Rucksack" schwerer. Bei 15 Teilnehmern muss der Spielleiter am Ende 15 Namen und die dazugehörigen Gesten wiederholen. Wenn das Gedächtnis an einer Stelle aussetzt, helfen die jeweils Betroffenen nach. Zum Glück passieren „Fehler“ und Verwechslungen, so dass es oft etwas zu lachen gibt. Das „Klima", das bei einer solchen Eingangsrunde entsteht, ist von großer Bedeutung für den weiteren Verlauf des Kurses und die Offenheit, mit der die Teilnehmer sich begegnen. Dass man einander mit Namen anreden kann, trägt ebenfalls dazu bei. Das kann man zwar nach so einer Runde noch nicht ganz sicher, aber spätestens nach einem halben Tag weiß man sie, wenn der Spielleiter die Personen von da ab immer mit Namen anredet. Gleichzeitig wird die Achtsamkeit für kleinste Gesten und Bewegungen und die darunter liegenden Haltungen geschärft.

Nun bittet der Spielleiter darum, dass reihum jeder für die Geste seines linken Nachbarn eine kurze Überschrift formuliert: Das kann ein zusammenfassender Begriff, ein halber oder ganzer Satz oder auch nur ein Ausruf sein.

Abschließend wird durch Handheben ermittelt, wessen Geste oder Haltung durch die vom linken Nachbarn gegebene Überschrift gut getroffen wurde bzw. ob mit der Überschrift die Bedeutung der Geste bzw. der ihr zugrundeliegenden Haltung genau oder wenigstens annähernd genau getroffen worden ist. Häufig ist das nur bei etwa der Hälfte der Fall.

Der Spielleiter nutzt dieses Ergebnis, um darauf hinzuweisen, dass die äußere Wahrnehmung von der inneren Intention stark abweichen kann. Im weiteren Verlauf des Seminars wird dieser Aspekt durch die Reflexionsrunden verstärkt. Damit begründet sich auch, warum es nach den einzelnen Spieldurchgängen notwendig ist, über die im Spiel entstandenen Szenen und Gesten und die darin sichtbar gewordenen Haltungen zu reden, statt sie als „offensichtlich“, also von jedem in der gleichen Weise verstanden, im weiteren Verlauf vorauszusetzen.

 

Text-Aneignung

Der Spielleiter entscheidet vorab, welche Szene aus welchem Lehrstück von Brecht gespielt wird. Für die Textaneignung gibt der Spielleiter folgende Anweisungen:

 

1. Die Textaneignung geschieht nicht im Stillen, sondern kollektiv: alle sprechen den Text vom ersten Moment an laut, gleichzeitig, aber im eigenen Tempo und Rhythmus, also „durcheinander“. Gelesen wird alles, was auf dem Blatt steht, inklusive Rollenbezeichnung und Regie-Angaben. Während des Lesens gehen alle kreuz und quer durch den Raum. Wenn man am Ende des Textes angekommen ist, beginnt man wieder von vorn. Nach 15-20 Minuten unterbricht der Spielleiter, der sich selbst am Laut-Lesen beteiligt, und leitet den nächsten Schritt ein.

2.  Jeder liest seinen Text an genau der Stelle weiter, an der er aufgehört hat, sucht sich jedoch jetzt wechselnde Partner. Während man selbst den Text kontinuierlich weiter liest, hört man gleichzeitig dem anderen ein wenig zu. Dabei können überraschende Textkombinationen und Dialoge entstehen. Es darf aber nicht vom Text abgewichen werden. Der Spielleiter unterbricht wieder nach 15 bis 20 Minuten.

3. Nun stellen sich alle in einem Kreis auf und rufen sich einzelne Worte, Halbsätze und ganze Sätze des Textes zu. Dabei achten sie darauf, möglichst nicht gleichzeitig zu sprechen. So entsteht eine teilweise recht amüsante Unterhaltung, wobei aber wiederum ausschließlich das Sprachmaterial des Textes benutzt werden darf. Die Reihenfolge, in der diese Textteile gesprochen werden, spielt jetzt keine Rolle mehr. So entstehen oft witzige oder auch nachdenklich stimmende Sequenzen, und es wird viel gelacht. Dieses Spiel mit dem Textmaterial bewirkt eine gewisse Distanzierung vom Text, eine „Verfremdung“, die die Möglichkeit in Aussicht stellt, den Text auch ganz anders zu verstehen als bei der ersten Lektüre. Auch diese Unterhaltung dauert etwa 15-20 Minuten.

4. Abschließend drehen sich alle um, stehen mit dem Rücken zum Kreis und blicken sich nicht mehr an, sondern gewissermaßen nach innen. Der Spielleiter fordert dazu auf, dass sich jeder aus dem Text einen Satz (oder Halbsatz, oder auch nur ein Wort) auswählt, der oder das eine besondere innere Resonanz oder ein bestimmtes Gefühl hervorgerufen hat. In den nun folgenden 10-15 Minuten darf jeder nur diesen einen Textteil sprechen und in unterschiedlichen Modulationen immer wieder wörtlich wiederholen. Dabei ist darauf zu achten, dass man sich nicht gegenseitig unterbricht oder ins Wort fällt. Es geht nicht der Reihe nach, sondern man muss versuchen, Momente zu wählen, in denen gerade kein anderer spricht. Während man den anderen zuhört, versucht man zu erahnen, was sie wohl zur Auswahl dieser Textstelle bewogen haben mag.

 

Die Vorgaben des Spielleiters vor den nun beginnenden drei Hauptphasen eines Lehrstückkurses dieser Art werden hier nicht beschrieben. Sie können von meiner Website heruntergeladen werden: www.reinersteinweg.info / Aufsätze / Vorbemerkung [zu meinen Publikationen seit 2018] Nr. 4.

Hier folgen noch erfahrungsbasierte Vorschläge für den Umgang mit der Zeit in Lehrstückkursen, zur Haltung des Spielleiters und abschließend ein Einblick in Langzeitwirkungen von Lehrstückkursen.

 

Zum Umgang mit der Zeit

Die modernen Lebensumstände bringen es mit sich, dass immer weniger Zeit für Kurse aller Art gegeben ist. Alle Teilnehmenden sind vielfach und vielseitig interessiert und beschäftigt, haben eine Menge Termine im Laufe eines Jahres zu bewältigen und versuchen, ihr Leben möglichst intensiv und vielseitig zu gestalten. Konnten wir zwischen 1978 und 1995 noch ganze Wochenkurse mit Lehrstückspiel durchführen, so muss man heute zufrieden sein, wenn man wenigstens zwei ganze Tage bekommt – z.B. Samstag 9:00 - 19:00 Uhr und Sonntag 10:00 - 17:00 Uhr, Essenspausen eingerechnet.

Die Zeitverknappung hat indessen nicht nur Nachteile: Sie zwingt zu einer sehr stringenten Kursleitung. Die Vorgaben der Spielleitung müssen präzise und klar sein. Aber Debatten über „Wie weiter?" gibt es nicht, kein Ausprobieren unterschiedlicher Wege oder neuer Herangehensweisen. Wenn dies der Fall sein soll, muss der Kurs so ausgeschrieben werden und von vornherein völlig anders strukturiert werden. Die von Brecht praktizierte und gewünschte „ungeheure Mannigfaltigkeit" im Lehrstückspiel ist unter diesen Umständen kaum in einem Kurs, sondern am ehesten erfahrbar, wenn man Kurse mit unterschiedlichen Ansätzen und Kursleitungen besucht.

Trotz oder gerade wegen dieser zunehmenden Zeitknappheit, die von vielen auch als Zeitdruck empfunden wird, ist das Sich-Zeit-Nehmen eines der wichtigsten Elemente meiner Kurse: Zeit für's Nachdenken bieten – beim Spielen selber, vor allem aber in den Reflexionsrunden. Da darf gern mal 2-3 Minuten geschwiegen werden. Es gibt keine Zeitvorgaben. Es braucht, was es braucht. Wiederholungen sind nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich willkommen (das muss man als Spielleiter zu Beginn der ersten Reflexionsrunde betonen): Wenn A eine Assoziation geschildert hat und B oder C hatten die gleiche, so sagt das über die betrachtete Spielszene einiges aus; und meistens zeigt sich dann beim genaueren Hinsehen, dass es zugleich feine Unterschiede in der Wahrnehmung, in den dabei entstandenen Emotionen, bei der Assoziation von Realerfahrungen (manchmal auch von Lektüre oder anderen Theaterstücken) gibt, andere Gewichtungen, besondere Details, unterschiedliche Perspektiven. Dafür muss gerade beim „Hineinkommen" in Phase 1 Platz sein. Denn der stetige Wechsel von Handeln und Betrachten ist ungewohnt, die Wahrnehmungssinne müssen zunächst geschärft bzw. (wieder) zugelassen werden. Vieles, was in das Spiel eingeflossen ist, wird einem erst im Zuge der gemeinsamen Reflexion, beim Nachdenken und Zuhören, so richtig bewusst. Und das Vertrauen, in der Gruppe auch noch nicht zu Ende Gedachtes, „Schräges", Ungewöhnliches oder sogar Peinliches aussprechen zu dürfen, ohne dafür schief angesehen zu werden, fällt nicht vom Himmel. Es entwickelt sich erst nach und nach.

Auch als Spielleiter nehme ich mir die notwendige Zeit, wenn ich meine eigenen Wahrnehmungen, Gefühle und Assoziationen ausspreche, und signalisiere damit zugleich, dass ein solch nachdenklicher, manchmal eher um Worte ringender oder nach angemessener Verbalisierung suchender Umgang mit der Zeit in diesem Kurs erlaubt und nicht verpönt ist.

Dieser Umgang mit der Zeit wurde in der Abschlussrunde, von der im Film nur ein sehr kleiner Ausschnitt zu sehen ist, von einer TeilnehmerIn unter ausdrücklicher Zustimmung der Übrigen als wohltuend und hilfreich besonders hervorgehoben.

Nur zweimal ist es in all den Jahren seit 1979 vorgekommen, dass Teilnehmer sich über diese bewusste Langsamkeit beschwert haben. „Ich hab's fast nicht ausgehalten", sagte einmal einer; „Du hättest uns doch in dieser Zeit noch so viel mehr über Brecht erzählen können!" (In dem Fall hatte es keine Gelegenheit für einen vorangehenden Vortrag gegeben, wie er auf der Film-DVD wiedergegeben wird). Das Verlangen nach „Mehr, mehr!" ist oft ein Ausdruck von Angst; z.B. Angst, für die in Zukunft zu bewältigenden Aufgaben nicht hinreichend gerüstet zu sein – verständlich angesichts der gesellschaftlichen Tempo- und Anforderungssteigerung, aber kontraproduktiv, wenn es um Tiefe und Selbsterforschung geht.

Denken, wirkliches Nachdenken, eigenes (Spiel-)Verhalten betrachten, über Wahrnehmungen der anderen reflektieren, sich selber auf den Grund gehen, all das braucht Muße. Mit „Husch-Pfusch" ist da nichts gewonnen, aber viel verloren.

Das gilt auch für die Phase 3 „Verändern“: Nach jedem Spieldurchgang gibt es eine Nachdenkpause, in der sich die Teilnehmer Notizen über das soeben Erlebte/Gesehene machen. Der Spielleiter achtet sorgfältig darauf, dass nicht weitergespielt wird ehe alle ihre Notizen abgeschlossen haben. Das ist eine Voraussetzung für die Schlussreflexion, in der die Erfahrungen derjenigen Spieler im Mittelpunkt stehen, deren Darstellungsweise  im Sinne eines wissenschaftlichen Experiments „fixiert“ worden war (im Film der Kaufmann und der linke Chor). Sie sind die „Prüfsteine“ für die Wirksamkeit der jeweils eingenommen Haltungen der „variablen“ Figur (im Film der Kuli). Während der 70-Minutenfilm so wirken kann, als ginge in dieser 3. Phase  alles Schlag auf Schlag, ist die Kurswirklichkeit durch Ruhe und Reflexion bestimmt.

Ein Paradox dieses Spielansatzes ist, dass ausgerechnet in Phase 3, der Haupt- und Zielphase, in der am meisten gelernt wird, manchmal die Zeit ausgeht. Aber daraus die Konsequenz zu ziehen, zu Beginn des Kurses „auf die Tube zu drücken", um dafür am Ende genug Zeit zu haben, wäre ebenfalls falsch. Meine Erfahrung zeigt, dass das nicht funktioniert. Es nützt nichts, rascher bei Phase 3 anzukommen, wenn dadurch die Basis fehlt, die man für eine sorgfältige und produktive Durchführung dieser Phase braucht. Lieber in Phase 3 nur wenige Szenen spielen und diese genau reflektieren als zu Beginn Zeitdruck erzeugen und dadurch die Hinwendung zum genauen Betrachten und Nachdenken zu behindern.

 

Zur Haltung des Spielleiters

Ruhe, Zeit geben, eher einmal zu viel fragen, ob noch „etwas steckt", Gedanken noch im Werden sind, als einmal zu wenig, ist ein wichtiges Element der erforderlichen Spielleiter-Haltung.

Aber es gehört noch mehr dazu. Wie schon gesagt, der Spielleiter verhält sich als „Erster unter Gleichen": Alle sind in diesen Kursen absolut gleichberechtigt. (Dies ist einer der Gründe dafür, warum ich auf die übliche Vorstellungsrunde zu Beginn verzichte, in der alle erzählen, was sie machen: dadurch schleichen sich leicht, wenn auch oft unbewusst, Wertungen und Zuordnungen auf der sozialen Rangleiter ein.) Außer der Abfolge und den Regeln gibt die Spielleitung nichts vor. Diese aber sind streng einzuhalten, damit der Kurs stringent bleibt.

Nach der Vorführung des Dokumentarfilms bin ich mehrfach und mit dem Ausdruck äußersten Erstaunens gefragt worden, ob ich denn wirklich niemals wenigstens andeutungsweise Regieanweisungen gegeben hätte. Und ob ich die Szenenauswahl für die dritte Phase tatsächlich den Gruppenmitgliedern überlasse, selbst wenn ich anderer Meinung bin. Die Antwort auf beide Fragen ist ein uneingeschränktes Ja. Aber ich stimme mit ab, meine Stimme zählt so viel wie alle anderen, und ich melde mich möglichst als letzter, um den Abstimmungsvorgang nicht zu beeinflussen.

Natürlich läge es nahe, in Phase 3 immer eine Szene aus Phase 2 zu verwenden. Ich bin davon abgekommen, weil dann, wenn die Gruppe – wie in dem Seminar, auf dem der Film beruht – untergründig noch mit einer Szene aus Phase 1 beschäftigt ist, kann die Phase 3 nicht mit der erforderlichen Intensität, mit dem gleichen Interesse gespielt werden. Trotzdem hat der Realitätsbezug der Phase 2 Einfluss auf den Verlauf von Phase 3: Alle haben jetzt die Erfahrung gemacht, dass es um etwas geht beim Lehrstückspiel,  das mit ihrem Leben zu tun hat. Sie handeln somit auch in Phase 3 aus dem Bewusstsein der Wirklichkeitsbezogenheit und beteiligen sich an den Experimenten nicht nur formal.

Klar spielt der (meist gegebene) Altersunterschied und die größere Erfahrung mit den Brechttexten sowie die ausgiebige Beschäftigung mit Brechts Lehrstücktheorie in meinen Seminaren eine Rolle. Entscheidend sind aber ein wertschätzender Umgang mit allen Teilnehmern, das Interesse für jeden Einzelnen, die Zeit und der Freiraum, den sie bekommen, ihren eigenen Impulsen zu folgen, die Klarheit der Spielvorgaben und die strikte Einhaltung der Regel, nichts auch nur andeutungsweise positiv oder negativ zu bewerten und damit vollständige Freiheit innerhalb der durch die Spielregeln und die Phasenabfolge gegebenen Struktur zu ermöglichen.

 

Was lernen Menschen im Lehrstückspiel?

 

Brecht hatte die Vorstellung, dass man sich durch das Spielen auf ganz konkrete Handlungen vorbereiten oder auch entscheiden kann, sie nicht vorzunehmen, wenn man beim Spielen ihre Tragweite und möglichen Folgen erkennt:

„Wenn einer am Abend eine Rede zu halten hat, geht er am Morgen in das Pädagogium und redet die 3 Reden des Johann Fatzer. Dadurch ordnet er seine Bewegungen, seine Gedanken und seine Wünsche.

Weiter: Wenn einer am Morgen einen Verrat ausüben will, dann geht er am Morgen [sic!] in das Pädagogium und spielt die Szene durch, in der ein Verrat ausgeübt wird. Wenn einer abends essen will, dann geht er abends [sic!] in das Pädagogium und spielt die Szene durch, in der gegessen wird." (Steinweg 1976, 72).

Das setzt eine Institution voraus, in der den ganzen Tag genügend Mitspieler anwesend sind. Diese Utopie ließ sich bisher nicht verwirklichen und folglich auch nicht oder nur selten die unmittelbare Anwendbarkeit des Gelernten noch am gleichen Tag. Was in Lehrstückkursen der Gegenwart gelernt werden kann, ist also eher grundsätzlicher Art und anwendbar in vielen unterschiedlichen Situationen.

Die wichtigste Lernerfahrung, die ich selber gemacht und in entsprechenden Situationen umsetzen konnte, ist die folgende: Wenn man (ich) ein konkretes politisches Ziel erreichen will, dann ist es hilfreich, sämtliche Nebenziele oder weitergehenden Wünsche in Bezug auf den Gegner vollständig auszublenden und auf ihre Realisierung zu verzichten, so lange man dieses eine Ziel verfolgt. Diese Lehrstückerfahrung hat mir in so manchen Situationen, etwa im Rahmen des von mir geleiteten Aktionsforschungsprojekts „Gewalt in der Stadt“ (wo wir eingangs auch Lehrstück gespielt haben, siehe Steinweg 1994, 72-82) sehr geholfen.

Bisher konnte ich nur wenige ehemalige Lehrstückspieler auf nachhaltige Lernerfahrungen befragen. Mitspieler aus den 1970er und 1980er Jahren haben mir folgende Punkte genannt:

·       Ein über Jahrzehnte aktiv in der Friedensbewegung tätiger Malermeister berichtete, dass das wichtigste Ergebnis für ihn die Einsicht war, dass auch er, der entschiedene Pazifist, aggressiv werden kann, ein Aggressionspotential hat.

·       Eine andere Mitspielerin hob als wichtigste, sie lebenslang begleitende Spielerfahrung hervor, in beruflichen Konflikten freundlich auf den Gegner zuzugehen, mit ihm zu reden und den Konflikt von verschiedenen Seiten und Sichtweisen zu beleuchten.

·       Eine damals noch jugendliche Mitspielerin in unserem Forschungsprojekt „Jugend und Gewalt" (Steinweg 1986) berichtet, dass sie aus den Lehrstückerfahrungen die Konsequenz gezogen habe, sich aktiv und dauerhaft in der Friedensbewegung zu engagieren. So sei es auch anderen aus ihrer Spielgruppe gegangen.

·       Eine vierte aus einem ganz anderen Spielkontext erinnert sich, dass sie nach dem Seminar wesentlich besser mit ihrem etwas schwierigen Vorgesetzten umgehen konnte, und dass diese Erfahrung sie lebenslang begleitet habe. In der Spielphase 2 war die Figur im „Hochstatus" dieser Vorgesetzte bzw. der Konflikt mit ihm der Subtext gewesen, und die Szene wurde dann in Phase 3 variiert.

·       Ähnlich berichtete eine weitere Teilnehmerin aus einem anderen Seminar ein paar Monate nach Seminarende, sie habe ihrem Chef, ein Gewerkschafter, auf dessen Frage, was sie denn in diesem Kurs gelernt habe, geantwortet: „Dir zu widersprechen!"

Ein erstes, vorläufiges Fazit ist also, dass so etwas wie Empowerment und Aktivierung stattfindet und/oder kritische Selbstreflexion, was zweifellos zu einer verbesserten Handlungsfähigkeit beiträgt.

 

Literatur zum Lehrstückspiel (Auswahl)

Gerd Koch, Reiner Steinweg, Florian Vaßen (Hg.): Assoziales Theater. Spielversuche mit Lehrstücken und Anstiftung zur Praxis, Köln (Prometh-Verlag) 1984

Wolfgang Heidefuß, Peter Petsch, Reiner Steinweg: Weil wir ohne Waffen sind. Ein theaterpädagogisches Forschungsprojekt zur Politischen Bildung. Nach einem Vorschlag von Bertolt Brecht, Frankfurt/M. (Verlag Brandes & Apsel) 1986

Reiner Steinweg:

1972: Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung, Stuttgart (Metzler-Verlag) 1972, 21976

1976.: Brecht, Eisler und Mitarbeiter. Äußerungen zu den Lehrstücken, chronologisch geordnet (= textkritische Ausgabe der theoretischen Äußerungen von Brecht und seinen MitarbeiterInnen zum Lehrstück), in: Reiner Steinweg (Hg.): Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussion, Erfahrungen, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1976, 31-221

1978: (Hg.):Auf Anregung Bertolt Brechts: Lehrstücke mit Schülern, Arbeitern, Theaterleuten Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1978

1994: Gewalt in der Stadt. Wahrnehmungen und Eingriffe. Das Grazer Modell. Münster: Agenda-Verlag

1995: Lehrstück und episches Theater. Brechts Theorie und die theaterpädagogische Praxis. Mit einem Nachwort „Brecht in Brasilien" von Ingrid D. Koudela, Frankfurt/M. (Brandes & Apsel), 2. erweiterte Aufl. 2005

Weitere Veröffentlichungen zum Lehrstück bzw. zu einzelnen Lehrstücken siehe die Bibliographie in Steinweg 1995 mit Ergänzungen in der 2. Aufl. 2005, S. 191 f, sowie www.reinersteinweg.info und die Lippische Landesbibliothek, Detmold.